Reinborn - das Dorf am Renborn

Reinborn_20050727_002_nAuf dem flachen Höhenrücken zwischen der obersten Ems und dem Steinfischbacher Grund, wenig mehr als hundert Meter über dem Emsbachtal, liegt das kleine, heute zur Gemeinde Niederems gehörige Reinborn mit seinem schlichten Barockkirchlein und der mächtigen “Tausendjährigen Linde”.

Einsam und verträumt liegt es da, in der windgeschützten Mulde des obersten Reinborner Grundes und inmitten eines Kranzes herrlicher Wälder, der einen Blick in das tief eingeschnittene Emstal bis hin zu der blauen, trotzig ragenden Waldbergwand freigibt. Diese selbst irn Gebirge nicht gewöhnliche Höhenlage, die Abgelegenheit und die Kleinheit des Dörfchens, das nur neun Gehöfte zählt und niemals viel größer war, mag mit daran schuld sein, dass es unverhältnismäßig spät, nämlich erst 1427, in der urkundlichen Überlieferung auftritt. Und doch weisen gerade hier die Umstände auf ein ungewöhnlich hohes Alter hin, ein Alter, das nicht sehr viele Dörfer des Taunusinneren für sich in Anspruch nehmen können.

Daß Reinborn hinsichtlich seiner Lage eine Sonderstellung einnimmt, lehrt jede Karte. Die übergroße Mehrzahl unserer Taunusdörfer sind ausgesprochene Talsiedlungen, und immer lagen sie da, wo eine alte Straße Tal und Bach überschreitet. Reinborn dagegen ist wie eine Reihe anderer Hochdörfchen mit Namen meist vordeutscher Herkunft eine ausgesprochene Höhensiedlung.

Die Nähe der bereits vorgeschichtlichen »Landstraß« von der oberen Wetterau über Tenne, Esch und Idstein zum Rhein, die Nähe der im Zuge dieser Straße gelegenen Grabhügelgruppe am “Goldkessel”, die Lage des Dörfchens am obersten Ende des Reinborner Grundes, die sich mit der Lage der vorrömischen Hochdörfchen deckt; die starke Quelle des “Renborn”, die auf vor- und frühgeschichtliche Besiedelung der Stelle hinweisenden Flurnamen “Hünerweid” und “Gickelsnörr” am Westrand der kleinen Siedelung und schließlich der von der Quelle übernommene und schon frühzeitig als “Rehborn” und “Reinborn” fehlgedeutete Ortsname, der auf eine vordeutsche oder altertümliche deutsche Wurzel zurückgeht, die sich in dem Namen des nahen vorgeschichtlichen Ringwalles “Ren(t)mauer” oder “Burg” und der ebenfalls vorgeschichtlichen “Renstraße” jenseits des Talgrundes wiederfindet, alles dies läßt darauf schließen, daß das heutige Reinborn aus einer bereits vorrömischen Siedelung an der gleichen Stelle hervorgegangen ist. Mit anderen Worten:

Hier blieben im Zuge der fränkischen Landnahme, seit etwa 500 n. Chr., Teile der alteingesessenen “Hünen”, vermutlich spätere Nachfahren einer vertriebenen Wetterauer Bauernbevölkerung der hallstattzeitlichen Urnenfelderkultur, anscheinend unangefochten sitzen, während die gleichzeitigen Bewohner der benachbarten Seitentälchen gezwungen wurden, ihre Hochdörfchen in der “Rummersbach” und am “Heidenkopf” aufzugeben und sich drunten im Tal beim neuen Herrenhof an der Stätte der heutigen Hofreiten Ott und Bachon anzusiedeln.

Welches die Gründe waren, dass man im Zuge der fränkischen Besiedelung und der erwähnten zwangsweisen Umsiedelung am “Renborn” nicht ebenfalls aufgab, lässt sich natürlich nur vermuten. Vielleicht war es der auch in heißen Sommern ergiebige “Renborn”, der die Stelle nach dem steilen Aufstieg über den “Pfaffenpfad” von Esch her auch in fränkischer Zeit und später zum begehrten Rastort für Menschen und Tiere machte. Darauf mag auch die Tatsache hinweisen, dass in Reinborn schon um die Mitte des l6. Jahrhunderts ein Schmied erwähnt wird und dass das Dörfchen noch im 19. Jahrhundert eine wenn auch nur kleine Gastwirtschaft hatte.

Reinborn_Kirche_001Damit erklärt sich zwanglos auch die auffällige Tatsache, dass man gerade an dieser abgelegenen Stelle schon frühzeitig ein Kirchlein errichtete. Der heutige Bau, ein spätes bäuerliches Barock, wurde in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts an der Stelle eines älteren, also zweifellos gotischen Kirchleins erbaut. Auf das einstige Vorhandensein eines noch älteren, romanischen Baues könnte der auffällige Rundbogen hindeuten, der noch heute Langhaus und Altarraum trennt. 1455 wird erstmals eine weitere Kirche im Bereich des Emser Grundes genannt, die Kapelle zu Reichenbach, die auf dem schroffen Felsen an der Stelle der heutigen Schule stand. Die in den Tälern ringsum sitzengebliebene, zahlenmäßig nicht unbeträchtliche “heidnische” Bevölkerung der Hünen ließ es den missionierenden Mönchen jener Frühzeit ratsam erscheinen, hier schon frühzeitig kleine Kirchenbauten zu errichten, die allerdings wie auch das viel spätere Oberemser Kirchlein, infolge der, Abgelegenheit und Kleinheit ihrer Dörfer immer nur Filialkirchen der umliegenden teilweise sehr alten Pfarreien Schloßborn, Treisberg, Esch, Heftrich, Steinfischbach und Oberrod blieben. Wie alt das kleine Reinborn ist, erweist im übrigen auch die auffällige Größe und die hervorragende Südlage seiner wohlabgerundeten alten Gemarkung, die sich einst, durch Anlieger noch unbehindert, nach allen Seiten hin gleichmäßig auszudehnen vermochte. Sie wurde im Westen vom “Reinborner Wald”, im Osten von der “Rummersbach”, im Süden von “Wäldchen” und “Oelheck” und im Norden von der “Landstraß” hinter “Breiteich” begrenzt. Eine Lage und Ausdehnung, die dazu führte, dass das wesentlich spätere Niederems seine Ackerflur in äußerst ungünstiger Hanglage suchen musste und sie erst weit talabwärts am “Meistergraben” und am “Hellenberg” hangaufwärts auszudehnen vermochte.

Dass Reinborn trotzdem immer nur klein gewesen ist, wurde bereits gesagt. Die Einwohnerverzeichnisse, Schatzungslisten (Grund- und Besitzsteuer) und Dienstgeldregister nennen für die Jahre 1566, 1583 und 1615 in Reinborn 8, 6 und 10 Hausgesässe.

Der Dreißigjährige Krieg zog auch hier wie anderwärts den Schlussstrich unter eine im ganzen friedliche und gedeihliche Entwicklung. Das nahe Oberndorf wurde im Herbst 1634 beim Zuge des spanischen Kardinalinfanten über den Taunus wüst, und nur die alte Oberndorfer Mühle blieb bis heute erhalten. In Reinborn und Niederems erlebten nur je drei Familien das Ende der furchtbaren Heimsuchung. Während aber die Bevölkerung der umliegenden Dörfer verhältnismäßig rasch wieder zunahm, während sogar das ebenfalls im Herbst 1634 fast gänzlich niedergebrannte Esch sich bald wieder, schöner und stattlicher denn zuvor, aus Asche und Trümmern erhob, vermochte sich das kleine Reinborn als selbständige Gemeinde mit eigener Gemarkung nicht mehr zu behaupten. Der durch Zuwanderung von nah und fern herbeigeführten Bevölkerungszunahme in den Jahrzehnten nach dem Kriege, machte eine frühzeitig einsetzende Abwanderung nach der Talsiedlung Niederems bald ein Ende.

Schon in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts war es so weit, dass die Niederemser ein Stück der brachliegenden Reinborner Ackerflur nach dem anderen unter den Pflug nahmen und den Reinbornern, als diese sich unter Berufung auf ihre alten Rechte dagegen zur Wehr setzten, die Teilnahme an der Schäferei und am Pferch streitig machten. Im Jahre 1700 sah sich die Kanzlei Idstein, die damals zuständige Verwaltungsbehörde, gezwungen. einzugreifen. Nach langen sorgfältigen Vorbereitungen, nach endlosen Verhandlungen und zahlreichen Lokalterminen fiel endlich im Sommer 1720 die Entscheidung: Die Wälder der “Ems”, bis dahin gemeinsames Eigentum der Emsdörfer, wurden den einzelnen Gemeinden zugeteilt, die neuen Grenzen erstmalig ausgesteint. Die Flur des ausgegangenen Oberndorf wurde unter die Anliegergemeinden Niederems und Wüstems aufgeteilt, die bisherigen Gemarkungen Niederems und Reinborn zusammengelegt. Noch einmal, und zufällig um die gleiche Zeit, wurde das so herbeigeführte Einvernehmen zwischen beiden Dörfern gestört.

1000-jaehrige-Linde-Februar-2005_001_nUm 1720 stellte es sich anlässlich einer Kirchenvisitation heraus, dass das Reinborner Kirchlein während der dreißigjährigen Kriegszeit und in den Jahrzehnten nachher, so gelitten hatte, dass ein Neubau nicht mehr zu umgehen war. Nun aber wünschten natürlich die Niederemser die neue Kirche unten im Tal, in dem ständig größer werdenden Niederems zu errichten, wogegen sich die Reinborner ebenso natürlich entschieden verwahrten. Schon sah es so aus, als solle Niederems recht bekommen, da erklärten sich die Reinborner bereit, alle für den Neubau nötig werdenden Fuhren, und diese führten mehrfach sogar nach dem fernen Frankfurt, unentgeltlich auszuführen. Das gab unter den noch immer schwierigen Verhältnissen der Nachkriegszeit den Ausschlag. Das neue Kirchlein wurde in den Jahren 1722-1724 an der Stelle des alten droben in Reinborn aufgeführt. Seine schlichten spätbarocken Formen mit dem hübschen Dachreiter, seine anmutvolle Schönheit und die herrliche Lage neben der uralten Linde, machen es noch heute zu einem vielbesuchten Wanderziel.

Die örtliche Sage will wissen, Reinborn sei einmal “eine große Stadt” gewesen. Da dies nach Lage der Dinge nicht möglich ist, dürfen wir, auf dem Gesagten fußend, diese “große Statt” vielleicht als eine in der immer irgendwie zuverlässigen bäuerlichen Uberlieferung weiterlebende bedeutsame “alte Stadt” auffassen. Siedlungs- und Flurnamen dieser Art finden sich aber immer nur da, wo die Neusiedler der frühmittelalterlichen Zeit Siedlungsspuren der “alten” Bevölkerung, der Hünen, antrafen. Der Name “alte Statt” (Altstatt, Altenstatt), der hier als Ortsname nahe lag, vermochte sich neben der namengebenden Kraft der lebenswichtigen Quelle, des Renborns, nicht durchzusetzen. Dennoch lebte er in der mündlichen Überlieferung weiter und wurde schließlich zur Sage von einer “großen Stadt”. Und damit fände das eingangs Gesagte eine gewisse Bestätigung.

Autor: August Groß